gelesen un zitiert by TichysEinblick vom 27. Dezember 2017
Politik wird noch irrationaler, orientiert sich an fragwürdigem
Medienapplaus. Über neue deutsche Mythen und Märchen, die das Land
schwächen, Veränderung
blockieren, die Gesellschaft spalten, um die
Macht des Klüngels zu sichern: Romantik trifft Wirklichkeit.
Lange galt Angela Merkel als Vorbild für einen neuen Politikertypus:
Als Physikerin, so wurde immer wieder erzählt, denke sie vom Ende her
und handle in kühler Rationalität. Das schuf Vertrauen in einer immer
komplizierter erscheinenden Welt: „Mutti“ mit dem Verstand der
rationalen Wissenschaftlerin passt schon auf, dass die Tassen im Schrank
bleiben.
Wenn Historiker einmal mit Abstand auf die heutige Gegenwart der
zurückblicken, werden sie eine andere Republik beschreiben: Längst
verfolgt Merkel eine Politik des persönlichen Machterhalts. Diesem Ziel
ordnet sie alles unter. Womit sie nicht allein ist: Im hoch
subventionierten Raumschiff Berlin hat sich eine politische Kaste
gebildet, die die Verbindung zur Erde abgebrochen hat.
Politik folgt fragwürdigen Umfrageergebnissen und vermuteten
Stimmungen; Schlagworte diktieren die Gesetzgebung. Der Historiker und
Buchautor Klaus-Rüdiger Mai („Gehört Luther zu Deutschland?“) über
das Verschwinden der Realitätsbezüge aus der Politik:
„Parteipolitik, nicht einmal im engeren, sondern im engsten Sinne,
ersetzt Politik für Staat und Gesellschaft. Statt Rationalität und Wirklichkeitsbewußtsein, statt
Prinzipienfestigkeit und Pragmatismus zu folgen, bewegt sich die
etablierte Politik im modus irrealis. Pathos und Phrasen setzen sich
über jede Notwendigkeit der Begründung und Argumentation hinweg. Die
Unangemessenheit der Rhetorik und ihre Grobheit belegt die mangelnde
Rationalität, weist darauf hin, dass die Leerstelle fehlender Argumente
durch die Sprache der Macht überdeckt wird. An die Stelle der Logik
tritt die Verdächtigung. Der politische Rationalismus, wenn er denn
käme, würde an der Tür zur Debattierstube der Deutschen Republik
womöglich das Schild lesen: ‚Bitte nicht stören, wir träumen gerade
so schön‘ und achselzuckend und auch ein wenig traurig weiterziehen.“
Ein kurzer Luftzug
Nur kurz hatte die Wirklichkeit eine Chance, die dumpfe Luft in den
Hinterzimmern der Macht der Republik zu ventilieren – und zwar an jenem
späten Sonntag, an dem FDP-Parteichef Christian Lindner die Gespräche
über eine Jamaika-Koalition für gescheitert erklärte. Dass es besser
ist, „nicht zu regieren, als schlecht zu regieren“ war sein Fazit.
Lindner ist noch nicht ganz Teil des Berliner Konsens allgemeiner
Wirklichkeitsverweigerung.
So verabschiedete sich Lindner an einem der Verhandlungsfreitage von
seinen Gesprächspartnern mit einer tagesaktuellen Statistik, wonach
weniger als zehn Prozent des an diesem Tag verbrauchten Stroms aus den
hochgelobten und noch höher subventionierten deutschen „Erneuerbaren“
stammten – von Oktober bis März herrscht in Deutschland „Dunkelflaute“,
die Kombination von schwächster Sonneneinstrahlung und weitgehender
Windstille. Deutsche Energiepolitik ignoriert das – wo ein politischer
Wille ist, scheint auch nachts die Sonne auf Solarpanele und die Winde
blasen folgsam in die Windparks. Eingelullt von einer grün gefärbten
Medienlandschaft, die Naturwissenschaft gern negiert, applaudieren rund
75 Prozent der Deutschen der selbstzerstörerischen Energiepolitik
Merkels. Noch. Denn der Strom fließt noch zuverlässig aus
Kohlekraftwerken, über deren Stilllegung allen Ernstes verhandelt
wurde.
Auch ein Lindner-Punkt: Der deutsche Fiskus erhöhte seine Einnahmen
in den vergangenen zehn Jahren von 540 Milliarden Euro auf fast 760
Milliarden, und bis 2020 sollen weitere zusätzliche 150 Milliarden in
seine Kassen fließen – doch für Schwarz wie Grün reicht es immer noch
nicht. Gerade mickrige vier bis sechs Milliarden wollten sie für die
langsame und schrittweise Reduzierung des als „Soli“ verniedlichten
Solidaritätszuschlags spendieren – ein Steuerzuschlag von mittlerweile
jährlich rund 20 Milliarden Euro, der 1991 zunächst für die Kosten
des Golfkriegs und seit 1995 zur Finanzierung der Wiedervereinigung
befristet bis 2019 erhoben wird.
Man muss diese Geschichte so detailgenau erzählen, um verständlich
zu machen, in welche grenzdebile Kombination von Staatsgläubigkeit und
Staatssozialismus sich Union und Grüne verstrickt haben: Die
Golfkriegsfinanzierung wird als Bildungssoli neu verkauft – in einer
Zeit der größten Geldschwemme aller Zeiten.
Noch ein Knackpunkt der Gespräche: Die fantastisch hohe Zahl von
200.000 Zuwanderern aus Afrika wollte die CSU erdulden, die CDU dagegen
mehr oder weniger als Untergrenze festlegen, während die Grünen
jegliche Begrenzung bekämpfen: Wohnungen allerdings werden für die
Neuankömmlinge nicht gebaut, sie sollen stattdessen mit staatlichen
Mietpreisbremsen und Wohnsitzvorschriften nach sozialistischem
Planwirtschaftsmuster regional verteilt werden.
In der Jamaika-Koalition sollte diese Art Politik wie eine unendliche
TV-Serie mit Angela Merkel bei zunehmender Ermüdung des Publikums
fortgeschrieben werden. „Den Lindner machen wir auch noch zum Guido“,
soll Merkel gesagt haben – die Fortsetzung ihrer gescheiterten Politik
mit anderen Köpfen der Republik.
Von der GroKo zur SchrumpfKo
Lindner hat dieses deutsche Wolkenkuckucksheim romantischer
Wirklichkeitsverdrängung kurz erschüttert. Beliebt hat es ihn nicht
gemacht bei den journalismusschaffenden Gesinnungsfreunden, die deutsche
Redaktionen bewohnen wie abgehauste Wohngemeinschaften der späten
70er. Aber lang durfte der frische Wind nicht durch die Straßen der
verlotterten Hauptstadt wehen: Auf Druck des von der SPD gestellten
Bundespräsidenten läuft alles auf eine Koalition zwischen CDU/CSU und
SPD hinaus – „Große Koalition“ genannt, obwohl das Uraltpaar nach den
verheerenden Wahlverlusten am 24. September von 80 auf gerade 54 Prozent
Stimmenanteil im Bundestag gefallen ist – mehr eine Schrumpf- als eine
Große Koalition.
Aber gelernt haben sie nichts. Zu beobachten ist vielmehr der
sofortige Rückfall in die alten Muster der Politik: höhere Steuern,
höhere Abgaben, mehr Sprüche – nur kein Rühren an Merkels
dramatischen Fehlentscheidungen.
Sofort formulierten führende SPD- Politiker ihre Bedingungen für
eine neue GroKo, nämlich eine Verwirklichung des Steuerkonzepts der SPD
und die Einführung einer „Bürgerversicherung“. Für sogenannte
„Besserverdiener“ bedeuten diese beiden Maßnahmen weitere erhebliche
Mehrbelastungen. Sie werden kommen.
Denn auch in der CDU/CSU gibt es längst Anhänger der
„Bürgerversicherung“. Einfach weil es so gleich, so gerecht klingt.
Propagandistische Begriffe schaffen sich ihre eigene Wirklichkeit.
Vorexerziert hat dies die Schwulenbewegung: Nachdem deren vier Dutzend
Verbände von der Propagierung der „Homo-Ehe“ zur „Ehe für alle“
umgeschaltet hatten, dauerte es nur wenige Wochen, bis die „Tagesschau“
die neue Sprachregelung popularisierte und kurz danach das Gesetz zum
Selbstläufer wurde. Auch die Bürgerversicherung ist ein
Etikettenschwindel. Gemeint ist nichts anderes als eine
Zwangsversicherung, in die künftig auch Beamte, Selbstständige und
Angestellte, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze (52.200 Euro im
Jahr) verdienen, gepresst werden sollen. So können der
Leistungswettbewerb um die beste Behandlung ausgeschaltet und Leistungen
durch die Einheitskasse rationiert werden.
Verlockend auch die neuen fianziellen Spielräume für staatliche
Umverteilung: Mit der Einheitskasse kann dann sukzessive die
Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden, um „soziale Gerechtigkeit“
herzustellen. Ergebnis: Selbstständige zahlen künftig viel mehr für
weniger Leistungen.
In einer weiteren Phase ist dann zu erwarten, dass auch für weitere
Einkünfte wie Mieteinnahmen und Einkünfte aus Kapitalvermögen
Versicherungsbeiträge erhoben würden. Für Grüne, Linke und den
linken Flügel der SPD ist es ein „Gebot der sozialen Gerechtigkeit“,
auch Vermieter und Sparer zu zwingen, auf ihre Einkünfte Beiträge an
die gesetzliche Krankenversicherung zu entrichten.
Die Verwirklichung der SPD-Steuerpläne ist eine weitere Forderung der
SPD für eine neue GroKo – massive Steuererhöhungen für
„Besserverdienende“. Die sogenannte Reichensteuer setzte bisher bei
Ledigen erst bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 254.477 Euro
ein. Künftig, so die SPD, soll der Spitzensteuersatz von 42 Prozent
auf 45 Prozent erhöht werden, und zwar für Personen, die mindestens
76.000 Euro im Jahr zu versteuern haben. Bislang waren nur 0,22 Prozent
der Steuerzahler von der Reichensteuer betroffen, künftig werden es
sehr viel mehr sein – nur dass die Reichensteuer dann nicht mehr so
heißt, sondern der bisherige Steuersatz der Reichensteuer künftig der
Spitzensteuersatz ist.
Gleichzeitig soll der Soli laut SPD zwar für Bürger, die bis 52.000
Euro zu versteuern haben, abgeschafft, für alle anderen aber weiter
erhoben werden. Das heißt, dass jemand, der 76.000 Euro im Jahr zu
versteuern hat (also gut 6.300 Euro im Monat), künftig in Wahrheit von
der nächsten Gehaltserhöhung 47,5 Prozent Steuern zu bezahlen hat, da
ja die 5,5 Prozent Soli noch auf die 45 Prozent aufgeschlagen werden.
Darüber hinaus soll nach den Plänen der SPD, die sie jetzt als
Grundlage für Verhandlungen über eine GroKo formuliert hat, die
„Reichensteuer“ von derzeit 45 auf künftig 48 Prozent plus Soli
angehoben werden – die Gesamtbelastung würde danach bei 50,64 Prozent
liegen. Schöne neue Welt. Zudem will die SPD die Abgeltungsteuer
abschaffen.
Wie sie das umsetzen will, ob nun nur für Zinseinkünfte oder auch
für Dividenden, beantwortet die SPD lieber nicht, und sie weiß warum:
Denn dann würde deutlich, dass künftig nicht nur höhere Steuern für
Erträge von Sparbüchern, Bundesanleihen und Riester-Sparplänen
gezahlt werden sollen, sondern dass Dividendenbezieher zweimal zahlen
sollen. Auf Unternehmensebene und dann noch einmal mit dem vollen
persönlichen Einkommensteuersatz auf privater Ebene.
Kapitalisten besteuern
Unter der Überschrift „Gerechtigkeit“ verbirgt sich ein groteskes
Abkassiermodell, das die Bürger noch stärker unter Knute und Kontrolle
des Einheitsversorgungsstaats zwingen soll. Damit würden für Erträge
von 100 Euro, die eine Kapitalgesellschaft erwirtschaftet, in der
Spitze bei Ausschüttung über 65 Prozent an den Fiskus entrichtet
werden müssen – ein enteignungsgleicher Vorgang. Es ist perfide,
Anleger, die ohnehin unter der Niedrigzinspolitik leiden, durch
Steuererhöhungen noch stärker zu schröpfen.
Übrigens: Wenn die Bürgerversicherung einmal eingeführt ist und
perspektivisch zur „Verbreiterung der Bemessungsgrundlage“ auch
Kapitaleinkünfte einbezogen würden, dann stiege die Belastung für
Besserverdienende bei Zinseinkünften schnell auf weit über 50 Prozent,
da zu den Steuern noch Zwangsbeiträge an die gesetzliche
Krankenversicherung hinzukämen. Wie das mit dem vom
Bundesverfassungsgericht postulierten Halbteilungsgrundsatz vereinbar
sein soll, weiß niemand mehr – scheint aber auch allen egal zu sein.
Wird sich die CDU/CSU gegen all das wehren? Das ist kaum zu erwarten.
Nach dem Scheitern von Jamaika ist Merkel auf die SPD angewiesen.
Neuwahlen fürchtet Merkel, denn die Union könnte unter die
30-Prozent-Marke fallen, was wohl sogar für Pattex-Merkel den Sturz vom
Thron bedeuten würde. Ohnehin ist die Union in den vergangenen Jahren
vergrünt und sozialdemokratisiert.
So wird wohl weiterregiert – am Wähler und seinen Interessen vorbei.
Denn längst hat sich in der deutschen Republik ein Regierungsstil
eingebürgert, den der Politikwissenschaftler Siegfried F. Franke („Die
gefährdete Demokratie“) als den der „Neuen Autoritären“ bezeichnet:
Der Einfluss der Parlamente wird beschnitten, indem Parteifunktionäre
„Koalititionsverträge“ schließen, die dann nur noch abgenickt werden
dürfen – eine eklatante Missachtung und Entmachtung des Souveräns.
Franke beklagt zu Recht auch, dass Entscheidungen in kleine, nicht
transparente Gruppen außerhalb des Bundestags ausgelagert werden – in
„Koalitionsrunden“, „Elefantenrunden“, „Steuerungsgruppen“, „runde
Tische“: „Selbst Parteitagsbeschlüsse werden ignoriert oder nonchalant
zur Seite gewischt, wenn es der Parteispitze nicht passt.“ Merkel hat
dies zur Meisterschaft entwickelt: So fiel die Entscheidung für den
Atomausstieg in einer von ihr berufenen „Ethikkommission“.
Zu diesem Verfall schweigen Journalisten und Medien, „weil sie in ihrer
Mehrheit den gleichen, nicht hinterfragten ,Narrativen‘ folgen. Der
Journalismus stellt sich heute kaum noch als Kontrollinstanz, sondern
eher als ,Erziehungsgehilfe‘ der Regierenden dar, um skeptische oder gar abtrünnige Geister zum
Republik-Mainstream zurückzuführen“, so Franke. Und wer da nicht
spurt, der bekommt es mit dem Vorwurf des „Populismus“ zu tun, in der
Steigerungsform des „Rechtspopulismus“. „Dass sich jene, die
Andersdenkende des Populismus zeihen, genau jener Methoden der Ab- und
Ausgrenzung bedienen, die sie den Populisten vorwerfen, wird ihnen nicht
bewusst.“ Und auch nicht, dass Deutschland wie Europa schon seit
geraumer Zeit von einem großen Maß an „Linkspopulismus“ wie auch
„Europa- beziehungsweise EU-Populismus“ beherrscht werde.
Politik wird damit zufällig: „Man verfolgt eine bestimmte Politik
nicht deshalb, weil sie notwendig ist, sondern weil sie sich gerade
anbietet, so wie man etwas kauft, nicht weil man es benötigt, sondern
weil es gerade im Sonderangebot ist“, spottet Klaus-Rüdiger Mai.