gelesen und zitiert by Hans-Werner-Sinne Homepage 17. Februar 2017
Die Zeit, 26.01.2017, S. 22
Marx
wird von Ökonomen unterschiedlich beurteilt. Unter Angelsachsen genießt
er eine nur geringe Wertschätzung, weil sie seine Arbeitswertlehre im
Mittelpunkt seiner Analyse sehen. In der Tat kann man als Ökonom der
Vorstellung wenig abgewinnen, dass der Wert einer Ware sich speziell nur
durch den Gehalt an Arbeit, der darin steckt, erklärt, während die
Kosten des Kapitaleinsatzes nichts als ein Mehrwert seien, den die
Kapitalisten den Arbeitern stehlen. Was Marx hierzu aufschreibt, ist
mehr Ideologie als Erkenntnis.
Marx' wahre Leistung liegt in der makroökonomischen Theorie, also in
seinen Erkenntnissen über die gesamte Volkswirtschaft. Die wichtigsten
Beiträge zur volkswirtschaftlichen Erkenntnis liefern seine
Krisentheorien. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Theorie vom
tendenziellen Fall der Profitrate zu, die im dritten Band des Kapitals entwickelt
wird. Die Profitrate nennen wir heute Ertragsrate oder Rendite. Es geht
um den Gewinn der Unternehmen im Verhältnis zu ihrem Einsatz von
Kapital. Nach Meinung von Marx fällt diese Profitrate im Zuge der
wirtschaftlichen Entwicklung auf ein immer niedrigeres Niveau. Das liege
daran, dass das Kapital schneller vermehrt werden könne, als die Zahl
der Arbeitskräfte wachse. Es werde also immer mehr Kapital pro Arbeiter
angehäuft, aber nicht proportional mehr verdient.
Marx vermutete, dass die fallende Profitrate irgendwann den Punkt
erreichen werde, an dem die Rendite für die Unternehmer zu gering sei,
um noch Investitionen zu wagen. An diesem Punkt komme es zu einem
Investitionsstreik, der die Wirtschaft in eine Krise stürze. Denn wenn
Investitionsgüter nicht gekauft würden, dann veranlasse dies die
Hersteller dieser Güter, weniger Vorprodukte zu kaufen. Deren Hersteller
kauften ebenfalls weniger Vorprodukte. Es komme zu einer viele
Wirtschaftsbereiche umfassenden Kettenreaktion, der Krise.
Diese Marxsche Krisentheorie ist hochaktuell. Sie wird in ähnlicher
Form heute wieder von führenden Volkswirten vertreten, so von Carl
Christian von Weizsäcker aus Bonn oder auch von Lawrence Summers, dem
ehemaligen Finanzminister der USA. Beide argumentieren, dass die
Menschheit schon zu viel investiert habe, sodass die rentablen
Investitionsprojekte zur Neige gingen. Es werde nicht genug verdient, um
mit dem sicheren Zins von null, den die Bargeldhaltung bietet, Schritt
halten zu können. Deswegen drohe der Investitionsstreik und die Krise.
Nach Alvin Hansen, einem Zeitgenossen von Keynes, nennen sie dieses
Szenarium Säkulare Stagnation. Sie fordern, dass der Staat in die
Bresche springt, indem er sich immer mehr verschuldet. Der Staat soll
die gesamtwirtschaftliche Nachfrage so weit erhöhen, dass die fehlenden
Investitionen kompensiert werden.
Weizsäcker argumentiert, dass auch eine nach dem Umlagesystem
konstruierte Rentenversicherung, die eine versteckte Staatsverschuldung
ist, und weitere Schattenhaushalte dabei nützlich sein könnten. Andere
Ökonomen wie zum Beispiel Kenneth Rogoff von der Harvard-Universität
wollen stattdessen das Bargeld abschaffen. Dann könnte man nämlich den
Zins so stark negativ machen, dass die Investitionen im Vergleich dazu
wieder rentabel würden. Solange es Bargeld gibt, kann der Zins freilich
nicht stark negativ werden. Denn welche Bank würde ihr Geld zu negativen
Zinsen - also mit Kosten für die Bank - an jemand anderen verleihen,
wenn sie es einfach als Bargeld halten könnte und dann kaum Kosten
hätte?
Die Theorie der Säkularen Stagnation hat insbesondere bei der
Europäischen Zentralbank (EZB) viel Anklang gefunden. Sie liefert ihr
eine willkommene Begründung für eine Negativzinspolitik, die in Wahrheit
der Rettung überschuldeter Firmen und Staaten in Südeuropa dient. Der
EZB-Rat hat den Zins auf Einlagen, die die Banken bei ihren nationalen
Notenbanken unterhalten, schon vor einiger Zeit negativ gemacht und
erlaubt den nationalen Notenbanken, Geld zu negativen Zinsen von bis zu
minus 0,4 Prozent an die Banken zu verleihen. Das Problem des EZB-Rates
ist, dass er die Zinsen wegen der Existenz des Bargeldes nur bis zur
Höhe der Tresorkosten in den negativen Bereich drücken kann. Geht er
weiter, behalten die Sparer lieber ihr Geld als Barbestand.
Insbesondere große Anleger wie Banken und Versicherungen haben die
Möglichkeit, Bargeld zu relativ niedrigen Tresorkosten zu halten. Sie
wählen deshalb schon heute in gewaltigem Umfang genau diesen Weg, um den
negativen Zinsen zu entkommen. Es gibt einzelne Banken, die Banknoten
von deutlich mehr als zehn Milliarden Euro lagern. In der Schweiz werden
Bergwerksstollen für die Lagerung von Bargeld verwendet.
Die Hortung des Bargelds ist dem EZB-Rat ein Dorn im Auge. Um die
Kosten des Hortens zu erhöhen, hat er im Jahr 2016 beschlossen, die
500-Euro-Geldscheine allmählich abzuschaffen. Damit zwingt er die
Tresorinhaber, 200-Euro-Banknoten zu halten. Da die Geldhaltung in den
Tresoren damit zweieinhalb Mal so teuer wird, gewinnt er etwas mehr Luft
für negative Zinsen.
So gesehen, hat die Marxsche Theorie vom tendenziellen Fall der
Profitrate eine ungeahnte Relevanz bekommen. Die Profitrate des Kapitals
ist derzeit offenbar so stark gesunken, dass die Firmen nur noch zu
Investitionen verführt werden können, wenn man härteste Mittel wählt und
ihnen das Geld beinahe hinterherwirft, ja, sie irgendwann sogar dafür
bezahlt, dass sie sich Geld leihen und es investieren.
Es wäre aber überzogen, Marx direkt für die EZB-Politik in Anspruch
nehmen zu wollen. Denn erstens hat er sich über Geldpolitik nicht
ausgelassen. Und zweitens sprach er nur vom tendenziellen Fall der
Profitrate. Das tat er deshalb, weil er beständige Gegenkräfte gegen
diesen Fall am Werke sah, die den Rückgang der Kapitalrendite zeitweise
unterbrechen und aufheben können.
Er spricht dabei unter anderem immer wieder von der krisenbedingten
Entwertung des Kapitals. Krisen bieten neuen Unternehmern die
Möglichkeit, auf den Ruinen alter, in Konkurs gehender Unternehmen neue
Firmen zu gründen, die die Maschinen und Gebäude sehr billig aus der
Konkursmasse erwerben und deshalb wieder hohe Kapitalrenditen
erwirtschaften. Diese Sicht der Dinge ist später von Joseph Schumpeter
vertieft worden. Er prägte den Begriff der schöpferischen Zerstörung, um
den Neuanfang auf den Ruinen alter Industrien zu beschreiben.
Diese schöpferische Zerstörung wird heute von den Zentralbanken der
Welt verhindert, indem sie die Zinsen so tief und die Vermögenswerte
durch den Kauf von Wertpapieren so hoch halten, dass auch
Zombie-Unternehmen nebst der Banken, die sie finanzieren, am Leben
gehalten werden. Zombies werden Einrichtungen genannt, die eigentlich
nicht mehr wettbewerbsfähig sind, doch wegen der Null- und
Negativzinspolitik überleben. Sie verharren wie lebende Tote
aktivitätslos in ihren Positionen und halten die Plätze besetzt, die nun
eigentlich junge Unternehmer einnehmen müssten. Die Eigentümer der
Altunternehmen werden vor herben Vermögensverlusten bewahrt, weil die
Zentralbanken die Marxsche Entwertungskrise verhindern. Aber genau
deshalb bleiben die Renditen niedrig und kommt der neue Aufschwung nicht
zustande. Es brauchte eine reinigende Krise, die auch die Zerstörung
alter, unprofitabel gewordener Strukturen und Firmen zulässt. Ohne den
Tod der Zombies gibt es keinen Neuanfang.
Aus dem nach Marx nur tendenziellen Fall der Profitrate wird heute
ein durch die Geldpolitik administrierter, massiver Rückgang, der in
einem schleichenden Siechtum endet. Dieses Siechtum sieht wie eine
Säkulare Stagnation aus, die aufgrund der Erschöpfung der
Investitionsmöglichkeiten zustande kommt. Sie ist aber in Wahrheit durch
eine Zentralbankpolitik verursacht, die den Interessen der Altbanken,
Altfirmen und alten Vermögensbesitzer dient und dadurch den Prozess der
schöpferischen Zerstörung verhindert.
Die Konsequenz ist, dass der Kapitalismus verkrustet und durch
ausufernde Rettungsaktionen der Zentralbanken allmählich zu einer
staatlich gesteuerten Wirtschaft mutiert, die mit einer Marktwirtschaft
nicht mehr viel gemein hat.
Im Endeffekt könnte sich Marx' Behauptung, der Kapitalismus werde am
Fall der Profitrate zugrunde gehen und dem Sozialismus den Weg ebnen,
also bewahrheiten - wenn auch ganz anders, als er es vermutet hatte.
Billiges
Kapital und niedrige Zinsen kurbeln nicht das Wachstum an, sondern
schützen die Vermögenden. Ein nachhaltiger Aufschwung gelingt nur mit
einem Paradigmenwechsel in der Geldpolitik.
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 02.09.2016, S. 31
Als
John Williams, der Präsident der mächtigen Distrikt-Zentralbank der
US-Westküstenstaaten, kürzlich vorschlug, das Inflationsziel der Federal
Reserve Bank von zwei Prozent auf drei Prozent anzuheben, atmeten viele
Anleger auf. Sie werteten den Vorstoß als Signal für weiterhin niedrige
Zinsen. Höhere Zinsen hätten niedrigere Aktien- und Immobilienpreise
bedeutet - und so manche Jahresbilanz verhagelt.
Williams begründet seine Empfehlung mit der Gefahr der Säkularen
Stagnation, einem Begriff, der 1938 von Alvin Hansen, einem Zeitgenossen
von Keynes, geprägt wurde.
Säkulare Stagnation bedeutet: Es gibt einen
dauerhaften Sparüberhang über die Investitionen, der auch bei Nullzinsen
nicht verschwindet, weil die Menge der rentablen
Investitionsmöglichkeiten erschöpft ist. Hansen wollte den Sparüberhang
durch permanente Budgetdefizite des Staates abschöpfen. Williams indes
setzt auf die Geldpolitik. Da der natürliche Realzins, zu dem genug
Investitionen zustande kommen, null oder sogar negativ sei, müsse die
Notenbank auch bereit sein, mit niedrigeren Nominalzinsen eine höhere
Inflationsrate anzupeilen.
Mit seiner Angst vor einer Säkularen Stagnation steht der Autor nicht
allein. Ökonomen wie
Carl Christian von Weizsäcker oder
Larry Summers
haben ähnliche Befürchtungen geäußert. Auch ich selbst habe 2009 die
Gefahr einer Säkularen Stagnation vom japanischen Typus beschrieben.
Inzwischen ist aber einiges Wasser den Rhein hinuntergeflossen, und
es schält sich angesichts der alle Mandatsgrenzen sprengenden
Interventionen der Notenbanken eine weitere Hypothese zur Erklärung des
Geschehens heraus.
Ich nenne sie das "selbst produzierte Siechtum".
Basis dieser Hypothese ist der Schumpeter'sche Konjunkturzyklus. Es
bilden sich aufgrund von Erwartungsfehlern regelmäßig Kreditblasen, die
platzen und danach neues Wachstum ermöglichen. Investoren kaufen in
Erwartung steigender Preise und Einkommen Wohn- und Gewerbeimmobilien,
wagen neue Unternehmungen. In der Folge steigen die Immobilienpreise, es
gibt einen Bauboom. Eine neue Gründerzeit setzt ein, die sich über die
Belebung der Binnenwirtschaft ein Stück weit selbst trägt und die
Dienstleistungssektoren mit erfasst. Die wachsenden Einkommen machen die
Kreditnehmer immer wagemutiger, was die Stimmung weiter aufheizt. Die
Währung wertet auf, die Importe nehmen zu.
Dann platzt die Blase. Die Ökonomie kollabiert, die Immobilienpreise
fallen, die Währung wertet ab, Firmen gehen in Konkurs. Grundstücke,
Fabrikgebäude, Wohnhäuser und nicht zuletzt Arbeitskräfte werden frei.
Bei niedrigen Preisen, einem niedrigeren Wechselkurs und günstigen
Arbeitslöhnen steigen wieder neue Investoren ein, die neue Firmen mit
neuen Geschäftsideen aufbauen. Nach der "schöpferischen Zerstörung"
setzt eine neue Gründerzeit ein.
In der aktuellen Krise 2017 wird die schöpferische Zerstörung als Basis
des neuen Aufschwungs durch die Geldpolitik verhindert. Die Notenbanken
haben sich von Vermögensbesitzern einreden lassen, durch groß angelegte,
mit der Druckerpresse finanzierte Anleihekäufe könne man den
Schumpeter'schen Konjunkturzyklus überwinden. Sie stoppten den Verfall
der Asset-Preise auf halber Höhe und verhinderten den Untergang vieler
Vermögen, doch verhinderten sie auch, dass sich genug junge Unternehmer
und Investoren bereitfanden, von Neuem einzusteigen.
Die Plätze blieben von Altunternehmen besetzt, die sich mühsam über
Wasser hielten, doch keine Kraft für neue Investitionen hatten.
Insbesondere in Europa, wo Fed-Vertreter Williams mittlerweile einen
negativen natürlichen Zins vermutet, blieben haufenweise Zombie-Firmen
und Zombie-Banken erhalten. Sie blockieren aufstrebende Konkurrenten,
die das Wachstum der Zukunft tragen könnten. So erstarrt die Wirtschaft
in einer Situation, die wie eine Säkulare Stagnation vom Hansen-Typ
aussieht - aber in Wahrheit eine selbst gemachte Stagnation ist.
Weil niedrige Zinsen zwar hohe Vermögenswerte, aber noch keine
Wertzuwächse bedeuten, müssen die Zinsen immer weiter gesenkt werden, um
den Finanzinvestoren die Gewinne und die davon abgeleiteten
persönlichen Einkommen zu sichern.
Die Ökonomie gerät bei fallenden
Zinsen in ein permanentes Siechtum. Dieses findet erst dann ein Ende,
wenn es in der Geldpolitik erneut einen Paradigmenwechsel gibt - wenn
nicht gar eine echte Kulturrevolution.
Nachzulesen bei:
www.wiwo.de