Montag, 19. Juni 2017

Nachruf auf Helmut Kohl - Der Architekt des Hauses Europa

gelesen und zitiert by Cicero vom 19. Juni 2017

Dass die Politik eines ganzen Lebens anknüpft an einen erzählbaren Sinn, das ist so selten, dass wir die wenigen Beispiele auswendig wissen: Churchill, Adenauer, de Gaulle, Brandt – und Helmut Kohl. Was bei ihm mit dem Impetus „Nie wieder Krieg“ begann, fügte sich zu einem mächtigen, hinreißenden Muster zusammen 

 


Helmut Kohl in Erfurt 1990: Abhold den verzögernden Winkelzügen, bereit zu dramatischen Entschlüssen / picture alliance


An Helmut Kohl denken, heißt immer zuerst, sich an wichtige Stationen des eigenen Lebens zu erinnern. So geht es jedem von uns, weil selten in der jüngeren Geschichte ein einzelner Politiker so tief im Guten in das Schicksal von Millionen von Menschen eingewirkt hat. Helmut Kohl hat die Chance genutzt, die deutsch-europäische Geschichtslandschaft, die seit dem Jahr 1914 durch mehrere Katastrophen umgestürzt gewesen war, zu einer neuen, haltbaren Architektur zusammenzufügen. Das „Haus Europa“, ein Begriff, der zuvor als politischer Versuchsballon herumschwebte, hat durch Kohl feste Wände erhalten. Sie wackeln, halten aber denn doch auch unerwartete Stürme aus, wie wir sie in diesen Tagen durch die griechische wie die ukrainische Krise erleben. Der Atomkrieg, der als finstere Wolke über zwei Generationen hing, hat nicht stattgefunden. Und das zweigeteilte Deutschland, wo sich Anfangs der achtziger Jahre die Raketen gegenüberstanden, ist vereint und hat, wie man so sagt, andere, sozusagen normale Völker-Sorgen.

„Nie wieder Krieg“ als Impetus

Kohl hat Schlechtes, Misslungenes zum Guten und Einverständigen gewendet, hat Feinde versöhnt, hat wieder zusammengewebt, was zerrissen war. Das ist fast zuviel für ein Politikerleben, und Helmut Kohl hat als Realist und Christ immer klar gesagt, dass Glück und Gnade dabei eine ebenso wichtige Rolle gespielt haben wie sein eigenes Handeln. Wie aber sah dies aus? Man hat früher viele Worte  über den  bloßen „Machtmenschen“ Kohl geredet. Aber alle Politik handelt vom Stoff der Macht – mögen manche Akteure ihr Image noch so lammfromm malen lassen. Das harte parteipolitische Handwerk brauchte Kohl als Voraussetzung für die Gestaltung dessen, was ihn von Anfang an umtrieb.
Kohls politischer Impetus, der eines Sensiblen und Eruptiven zugleich, wurzelt im „Nie wieder Krieg“ der ersten Jahre nach 1945. Der tatendurstige Idealist, der an Churchills Europa-Vision glaubte und französische Schlagbäume umriss, hat damals  für immer seine Lebensgrundsätze gefunden. Es waren, nach Kohls Erinnerungsworten, die Zeiten, wo jeder jedem half, ein Handschlag etwas galt, ein Versprechen ein Versprechen war und nicht wegen jeder Kleinigkeit gejammert wurde. Damals begann der anfangs schüchterne Riese seine Karriere, indem er als begnadeter Menschenfischer die richtigen Mitarbeiter fand und lernte, dass „Macht“ nichts anderes ist als Zustimmung anderer, ideelle Ziele durchzusetzen. Sein ganzes Leben hat Kohl Politik als Stiftung von Nähe, Vertrauen und Freundschaft interpretiert, und dort, wo es um Gegensätze ging, war sein Stil von eben solcher Direktheit geprägt.

Das erstaunlich erfolgreiche Kohl-Prinzip

Geschichte als Zusammenwirken von wirklichen Menschen zu begreifen, deren Gefühle, deren Herkunft und Familienverhältnisse mindestens so bestimmend waren wie abstrakte Überzeugungen, Ideen und Ideologien, das war das erstaunlich erfolgreiche Kohl-Prinzip. Die Erkenntnis, das alles auf Menschen ankomme, dass „Sympathie“ im wörtlichen Sinne ein hochpolitischer, manchmal alles entscheidender Faktor war, bewährte sich grandios in den  weltpolitischen Schicksalsjahren um 1989. Kohls Regierungsstil setzte nie auf versachlichte bürokratische Apparate, sondern auf dem Dialog mit einzelnen Vertrauten.
Auch in der Außenpolitik suchte er unmittelbare persönliche Kontakte und  kurze Verbindungswege zu den Regierungschefs. 1989/90 hat sich Kohl sechs Mal mit George Bush Senior getroffen und wöchentlich mit ihm telephoniert. Bushs Freundschaft rührte ebenso aus Kohls Standfestigkeit beim Nato- Doppelbeschluss wie aus dem Gleichklang des Familiensinns. Francois Mitterand kannte Kohl aus zahllosen Gesprächen, die sich oft um die tragische deutsch-französische Konfrontations-Vergangenheit drehten. Zwei Historiker hatten sich da gefunden, beide mit dem Glauben an den langen Atem der Geschichte. In Michail Gorbatschow fand Kohl ein ähnlich emotionales Temperament wie das eigene, abhold den verzögernden Winkelzügen, bereit zu dramatischen Entschlüssen.

Sternstunde der Geschichte am Rhein

Als sich die beiden am 14. Juni 1989 im Garten des Kanzleramtes trafen und bis in die Nacht, mit dem Blick auf den majestätisch dahinströmenden Rhein, über Vergangenheit und Zukunft Europas sprachen, muss eine Art Sternstunde der europäischen Geschichte stattgefunden haben. Die beiden Staatsmänner saßen auf der Mauer, drunten flanierten die Liebespaare, winkten erstaunt hinauf, und die Vision eines befriedeten Kontinents erschien ganz handgreiflich. Von da an war der Weg zu großen Entscheidungen offen.
Wer in früheren Tagen einmal die Gelegenheit hatte, Kohl beim Erzählen über Europa zuzuhören, der erinnert sich an so etwas wie einen großen, aus tausenden von farbigen Fäden zusammengewebten Bilderteppich. Alles hatte seinen Platz, nichts kam von ungefähr, und die Menschen, ihre Schicksale, ihre Leistungen und Misserfolge, ihr Handeln und Denken, schließlich ihr künstlerisches Gestalten fügten sich zu einem mächtigen, hinreißenden Muster zusammen. So groß die Vergangenheit war, so groß konnte deshalb auch die Zukunft Europas sein. Und mittendrin der Rhein, an dem Kohl sein Leben verbracht hatte, über den er alles gelesen hatte, was es gibt, der seine Heimat war und der im entscheidenden Gespräch mit Gorbatschow im Juni 1989 zum Sinnbild für das unaufhaltsame Fließen der Geschichte wurde, die einst die deutsche Einheit bringen würde. 

Das Symbol unserer guten Jahre

Dass in der Politik ein Mann mitten im Trubel der „Forderungen des Tages“ historisch begründet, warum er so und nicht anders handelt, ist selten genug. Dass aber die Politik eines ganzen Lebens anknüpft an einen erzählbaren Sinn, der in der longue durée von Europas Werden festen Grund hat, von Anfang an, das ist so selten, dass wir dergleichen Exempel alle auswendig herzählen können: Churchill, Adenauer, de Gaulle, Brandt, Kohl. Es sind die Menschen, die mit Jacob Burckhardt wissen, dass Geschichte nicht klug macht für ein andermal, sondern weise für immer.
Wie werden wir Helmut Kohl erinnern? Wahrscheinlich als Symbol „unserer guten Jahre“. Im Juni 2013, nach der Enthüllung der Käthe-Kollwitz-Büste in der „Straße der Erinnerung“ an der Spree, fuhren wir mit Kohl auf einem Schiff durchs sommerliche Berlin. In seinem Rollstuhl saß er auf dem Schiffsdeck wie ein mittelalterlicher König auf dem Thron. An den Ufern und auf den Brücken sammelten sich die Menschen, die ihn, erstaunlich genug, schon von ganz weitem identifizieren konnten. Sie rannten herbei, man winkte, lachte, grüßte, spontane Volksfeststimmung breitete sich aus. Touristenschiffe drehten bei. Der Alte sprach wenig, aber seinen  wachen Augen entging  nichts, nicht „sein“ Kanzleramt, nicht die weiße Pracht der Parlamentsbauten rings um den Reichstag. Wir spürten, das dies, obwohl spontan arrangiert, eine Art Abschiedsfahrt wurde. Und dachten an den Shakespeare-Satz: „Wir werden seinesgleichen nicht mehr sehn.“