Freitag, 6. Oktober 2017

Demoskopie - „Die Parteien haben sich darin eingerichtet, Scheinriesen zu werden“

gelesen und zitiert by Cicero vom 06. Oktober 2017, INTERVIEW MIT HERMANN BINKERT am 4. Oktober 2017

Warum schnitten CDU und CSU schlechter ab als von den Demoskopen erwartet, die Grünen aber besser? Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa über die Lehren aus der Bundestagswahl 

CSU-Fraktionssitzung nach der Wahl: „Endlich wurden die Umfragen mit der Wirklichkeit konfrontiert“ / picture alliance

Herr Binkert, Sie sind lange dafür kritisiert worden, dass Ihre Umfragewerte für die CDU/CSU zu niedrig und die der AfD zu hoch seien. Der Ausgang der Bundestagswahl hat Sie bestätigt. Empfinden Sie darüber Genugtuung?
Wir waren uns die ganze Zeit sicher, dass unsere Zahlen die Wirklichkeit spiegeln. Es geht bei Umfragen ja nicht darum, dass die Ergebnisse allen gefallen müssen, sondern dass sie stimmen. Aber natürlich gibt es Angenehmeres, als immer damit konfrontiert zu werden, dass man bei den Erhebungen teilweise zu signifikant andere Ergebnisse bekommt als die Mitbewerber. Ich habe mich nach diesen Bundestagswahlen gesehnt. Endlich wurden die Umfragen mit der Wirklichkeit konfrontiert.
Die Grünen haben Sie aber total falsch eingeschätzt. Viel zu tief. Wie erklären Sie sich das? Verstehe Sie im Osten nichts von den Grünen?
Es gab kein anderes Institut, das bei den Grünen näher dran war. Aber es gab andere, die deutlich weiter entfernt waren. In unserer Vorwahlumfrage kamen die Grünen auf 8 Prozent, beim amtlichen Endergebnis standen dann 8,9 Prozent. Das ist einerseits in der statistischen Fehlertoleranz drin und andererseits spiegeln wir – auch zwei Tage vor der Wahl – immer nur die Stimmung zum Zeitpunkt der Erhebung. Dass es noch Wähler gibt, die ursprünglich sagten, dass sie die Linke wählen, dann aber doch für die Grünen stimmen, oder potenzielle Unionswähler, die sich dann doch entscheiden, ihr Kreuz bei der FDP zu machen, wissen wir. Zu solchen Verschiebungen innerhalb eines Lagers kann es noch ganz kurzfristig kommen. An den großen Trends ändert das nichts.
Ist es vielleicht einfach nur Glück, dass Sie näher am Wahlergebnis lagen als die anderen? Ist Demoskopie am Ende eine Art Glücksspiel?
Wahlforschung ist weder Glücksspiel noch Zauberei, sondern eine Wissenschaft. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich „Geheimformeln“ gibt. Am Ende kommen meist Ergebnisse raus, die so nah beieinander sind, dass selbst durch die statistische Fehlertoleranz größere Unterschiede sichtbar werden müssten. Mir scheint die Offenheit gegenüber mehreren Umfragemethoden sinnvoll. Die Fixierung darauf, entweder nur telefonisch oder nur online zu erheben, ist meiner Meinung nach falsch. Wir haben jeweils gut 1.000 Befragte telefonisch und online befragt. Dieser Methodenmix schafft einen echten Erkenntnisvorsprung.

 

Hermann Binkert ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Insa.








Können Sie das genauer erklären?
Durch eine Online-Erhebung wissen wir, dass nur zwei Drittel der AfD-Wähler bereit sind, bei einer repräsentativen Telefonbefragung ihre wahre Wahlabsicht zu äußern. Es kommt sehr darauf an, die richtigen Fragen zu stellen und sowohl online als auch telefonisch zu erheben. Wir wissen, dass es Antworten gibt, die dem Interviewten „sozial erwünscht“ erscheinen, aber nicht seiner tatsächlichen Haltung entsprechen. Aber die „soziale Erwünschtheit“ hat bei Online-Umfragen grundsätzlich einen geringeren Einfluss. 
Und wie ist das mit den „richtigen“ Fragen?
Die unterschiedlichen Institute stellen nicht die gleiche Frage oder nutzen den gleichen Wortlaut. Auch die Antwortvorgaben sind wichtig. Welche Antwortoptionen werden vorgegeben, wie viele können bejaht werden oder ist es möglich, „offen“ zu antworten, ungefiltert das zu sagen, was man meint? Bei der Veröffentlichung der Ergebnisse scheint es aber häufig so, es handle sich um die gleiche Frage. Es gibt hier nicht zwingend ein Richtig oder Falsch, man muss aber um die Unterschiede wissen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Angela Merkel war 2013 die präsidiale Kanzlerin, die über alle Lager hinweg anerkannt war und auf Zustimmung stieß. 2017 war sie die Kanzlerin, an der sich die Geister schieden. Jeweils etwa 40 Prozent der Wähler wollten eine vierte Kanzlerschaft Merkels oder sie lehnten diese entschieden ab. Aber fünf von sieben Parteien – inklusive der CSU – sprachen sich mehr oder weniger klar für Angela Merkel als Kanzlerin aus. Wenn Sie nur fragen, wen man als Bundeskanzler „lieber“ hat – Merkel oder Schulz –, dann führt das zu Ergebnissen, die nicht wirklich weiterhelfen. Ein solches „entweder oder“ funktioniert nicht mehr. Keiner der beiden Kanzlerkandidaten hatte letztlich eine Mehrheit der Wähler hinter sich. Das „weder noch“ hat gefehlt. Wir haben es als Antwortoption mit abgefragt. Dass bei dieser gespaltenen Stimmung zur Kanzlerin nicht wieder 40 Prozent und mehr für die Union drin sind, war völlig klar.
Manche Institute erklären ihre Fehlprognose mit der Fehleinschätzung der Wahlbeteiligung. Überzeugt Sie das?
Nein. Zu einer guten Umfrage gehört es auch, die Wahlbeteiligung in etwa abschätzen zu können. Wir hatten mit einer Wahlbeteiligung zwischen 75 und 80 Prozent gerechnet und das auch öffentlich kommuniziert. Man hätte also nur auf uns hören müssen. Und natürlich war klar, wer von einer erhöhten Wahlbeteiligung profitiert. Das haben die Landtagswahlen des vergangenen Jahres und das hat auch der Aufruf von Minister Peter Altmaier – lieber nicht zu wählen, als aus seiner Sicht „falsch“ zu wählen – deutlich gemacht. Es ist bekannt, dass vor allem die AfD Stimmen der ehemaligen Nichtwähler bekommt. Die Parteien hatten sich darin eingerichtet, „Scheinriesen“ zu werden. Da die Wahlbeteiligung über mehrere Legislaturperioden immer weiter zurückging, täuschten die Wahlergebnisse einen Zuspruch vor, den es nicht mehr gab. Viele vergessen, dass Helmut Kohl bei seiner großen Wahlniederlage 1998 vergleichbar viele Wählerinnen und Wähler für die Union gewann, wie Angela Merkel bei ihrem großen Wahlsieg 2013.