Vor
einer Jamaika-Koalition muss niemand Angst haben. Jede der vier
Parteien hat ihre Stärken. Spielen sie diese geschickt aus, kann dies
das Land ein gutes Stück nach vorn bringen.
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 29. September 2017, S. 6
Die
neue deutsche Regierung, die wahrscheinlich von der CDU CSU, der FDP
und den Grünen gebildet wird, kann nicht mit den leistungshemmenden und
bloß umverteilenden Reformen der alten Koalition weitermachen, und sie
kann sich auch nicht damit begnügen, die Probleme Europas von den
Druckerpressen der Europäischen Zentralbank übertünchen zu lassen. Die
Bürger wollen keine salbungsvollen Sprüche mehr, sondern tatkräftige
Reformen, die das Land voranbringen. Sie wollen auch nicht mehr von
einer medialen Elite belehrt werden, sondern verlangen zu Recht, dass
diese Elite ihnen selbst zuhört.
Die neue Koalition hat die Möglichkeit, das Nötige zu liefern. Grüne
können erstaunlich pragmatisch sein, und mit der Umweltpolitik haben sie
einen unbestreitbaren Punkt. Die Liberalen verstehen viel von der
Wirtschaft, und sie kommen jung und modern daher. Die CSU ist
bodenständig, wirtschaftsfreundlich und sozial. Die desorientierte CDU
muss ihren Kurs erst noch finden. Sie sollte aber flexibel genug sein,
um die Koalitionäre zusammenzubinden. Kurzum: Vor dieser Koalition muss
keiner Angst haben. Vielmehr kann man von ihr einiges erwarten. Das sind
meine zehn Reformvorschläge.
1. Der Soli, der nur für den Übergang direkt nach der deutschen
Vereinigung gedacht war, sollte nun endlich abgeschafft werden. Zugleich
sollte der Tarif der Einkommensteuer auf Räder gestellt werden, damit
die Einnahmen des Staates aufhören, progressionsbedingt schneller zu
wachsen als die private Wirtschaftsleistung.
2. Deutschlands größtes Problem ist die Kinderarmut. Sie muss aktiv
bekämpft werden, indem der Staat aufhört, den natürlichen Kinderwunsch
durch ein fertilitätsfeindliches Rentensystem zu unterdrücken. Deshalb
muss eine Kinderrente zur Aufstockung der gesetzlichen Rente her.
Kostenlose Kita-Plätze sind das Mindeste, was die Gesellschaft zur
Kindererziehung beisteuern sollte. Das ist im Übrigen schon zur
Integration der Ausländerkinder unerlässlich.
3. Die Kosten der Maßnahmen können durch die kräftig sprudelnden
Steuereinnahmen sowie durch die Abschaffung aller Vergünstigungen bei
der Mehrwertsteuer finanziert werden. Christian Lindner kann die Ehre
der FDP wiederherstellen, wenn er den ermäßigten Steuersatz für die
Hotels wieder abschafft.
4. Die Hälfte des Nettoauslandsvermögens der Bundesrepublik besteht
aus Überziehungskrediten (Target-Kredite), die die Bundesbank den
anderen Zentralbanken des Euro-Systems hat gewähren müssen, derzeit etwa
850 Milliarden Euro. In den USA müssen solche Kredite zwischen den
Distriktnotenbanken einmal im Jahr getilgt werden. Auch Europa braucht
ein Tilgungssystem, um der Selbstbedienung der finanzschwachen Länder
ein Ende zu bereiten. Deutschland kann das ohnehin deutlich reichere
Südeuropa nicht miternähren.
5. Trotz des Reichtums sind viele Banken und einzelne Staaten in
Südeuropa überschuldet, und weil die EZB die Gläubiger absichert,
verschulden sie sich immer mehr. Die Schuldenlawine sollte durch
Schuldenschnitte und, soweit Staaten betroffen sind, durch Austritte aus
dem Euro nebst Abwertungen gestoppt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit
dieser Länder wiederherzustellen. Die deutsche Regierung muss den
Partnern in Südeuropa klarmachen, dass das Euro-System kein
Selbstbedienungsladen ist, der die angemessene Besteuerung seiner Bürger
entbehrlich macht.
6. Deutschland braucht eine Energieunion mit den anderen Staaten der
EU, denn es wird sonst bald nicht mehr in der Lage sein, die
ungleichmäßige Produktion des Wind- und Sonnenstroms abzupuffern. Im
Übrigen müssen die Anreize zur Vermeidung des CO 2 - Ausstoßes
harmonisiert werden.
7. Die Migration bedürftiger EU-Bürger in die besser entwickelten
Sozialstaaten sollte reduziert werden, indem dort nur noch erworbene
Sozialleistungen gewährt werden. Ererbte Sozialleistungen sollten von
den EU-Heimatländern erbracht werden. Nur so lassen sich die
Sozialmagneten abstellen. Das böte auch die Chance, die Briten vom
Austritt abzuhalten.
8. Europa braucht, wie Präsident Macron es vorschlägt, ein
einheitliches Asylsystem und eine europäische Grenzsicherung, um
sicherzustellen, dass Asylanträge nur außerhalb des europäischen
Territoriums gestellt werden können.
9. Um der Verstädterung und dem Mietanstieg in den Ballungszentren
entgegenzuwirken, braucht Deutschland einen flächendeckenden Ausbau der
Breitbandversorgung. Digitale Netze sollten europaweit harmonisiert
werden.
10. Europa braucht eine gemeinsame Armee zur Unterstützung und
Stärkung seiner Rolle in der Nato. Die Vorschläge des französischen
Präsident weisen grundsätzlich in die richtige Richtung.
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