Dienstag, 11. September 2018

"Feindliche Übernahme" : Ein rechter Hit

"Feindliche Übernahme":Ein rechter Hit

Thilo Sarrazin hat ein neues Buch geschrieben. Wie wird es zum Beststeller? Es gibt da ein paar Regeln, etwa: Keep it simple! Eine Erklärung in elf Punkten
"Feindliche Übernahme": Thilo Sarrazin 2016 zu Gast in einer Talksendung
Thilo Sarrazin 2016 zu Gast in einer Talksendung © Jens Kalaene/dpa
Thilo Sarrazin, geboren 1945, war bis 2010 als Volkswirt unter anderem bei der Deutschen Bahn, im Bundesfinanzministerium und im Vorstand der Deutschen Bundesbank tätig. 2010 erschien sein erstes an ein großes Publikum gerichtetes Buch, "Deutschland schafft sich ab", das sich in kurzer Zeit mehr als eine Million Mal verkaufte. Auch seine drei folgenden Bücher über den Euro, das angebliche Scheitern der Politik und das, was Sarrazin "Tugendterror" nennt, wurden rasch zu Bestsellern. Sein neues Buch "Feindliche Übernahme" ist schon bei Erscheinen das in Deutschland meistverkaufte. Unser Autor Georg Seeßlen beschreibt Sarrazins Buch in Analogie zu Bestsellern von E. L. James, Stephen King oder Joanne K. Rowling.

1. Die Erwartungen erfüllen

Für rechtspopulistische Pamphlete und populäre Romane gilt gleichermaßen: Sie müssen genau das sagen, was die einschlägige Leserschaft, in diesem Fall ein breites Spektrum rechts von der Mitte, erwartet. Sie müssen es auf eine Weise sagen, die keine Missverständnisse oder Zweifel hinterlässt, zugleich aber die eigentlichen Absichten verschleiert. Fifty Shades of Grey war so verpackt, dass das Label "sadomasochistische Pornografie für Hausfrauen mittleren Alters" nicht an ihm kleben blieb. Thilo Sarrazins Feindliche Übernahme ist so verpackt, dass das Label "völkisch-rassistische Pornographie für Menschen, die vom Selbstekel zum Größenwahn gelangen wollen" nicht an ihm haftet. 
Ein Bestseller unterscheidet sich von richtiger Schundliteratur: Damit die Kundin das Buch ohne Scham auf die Ladentheke legen kann, darf es die Grenze zur offenen Pornografie nicht überschreiten. Entscheidend ist, dass eine Komplizenschaft zwischen Autor und Leser entsteht, ein Einverständnis, ein suspension of disbelieve. Diesen Mechanismus, das Aussetzen der Ungläubigkeit, hat zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge beschrieben: Er beruht auf der Bereitschaft der Leser, einem Werk vorübergehend so zu vertrauen, dass an Realismus, Logik, Moral und Kohärenz andere Maßstäbe angesetzt werden als gewohnt, damit der Genuss des Werkes nicht gestört wird. Die Leserschaft schaltet ihre Kritikfähigkeit willentlich aus, um von der Autorin eben jene Affekte, Wunscherfüllungen und Bestätigungen zu erhalten, durch die er oder sie von der Wahrnehmung zum Genuss gelangt. Im schlimmsten Fall führt dersuspension of disbelieve zu einer völligen Verschmelzung von Traumwelt und Wirklichkeit. Weil sich Begehren und Angst darin vermischen.
Bei unveränderter demografischer Dynamik und unveränderter Einwanderung ist der Islam in Deutschland und Europa langfristig auf dem Weg zur Mehrheitsreligion.
Thilo Sarrazin

2. Einen Wissensmehrwert vortäuschen

Zahlen und Daten, mögen sie noch so weit hergeholt oder verdreht sein, erzeugen einen Eindruck von Recherche, Arbeit und Wissen. Noch wichtiger ist die Erzeugung eines autoritativen Jargons. Dan Brown erfindet in seinen Romanen ganze Wissenschaftsgebiete, in Harry Potterist Zauberei ein Schulfach, Karl May las sich Geografie- und Sprachkenntnisse an, um sie in seinen Romanen zu fetischisieren. Kurzum: Ein Bestseller verspricht zusätzliches Wissen. Während Leserin und Leser im heißen Kern mit genau dem versorgt werden, was sie erhofft haben (die Erfüllung ihrer mehr oder weniger verborgenen Wünsche), findet an der Oberfläche eine Simulation von Wissensvermittlung statt.
Die Erkenntnisse (...) haben einen gruppenbezogenen statistischen Charakter. Sie beschreiben stochastische Zusammenhänge, die niemals sichere Rückschlüsse auf einzelne Personen oder auf die Kausalität einzelner Ereignisse zulassen. Das vermindert aber nicht ihre empirische Relevanz (...).
Thilo Sarrazin

3. Es gibt nur Gut und Böse, nichts dazwischen

Bestseller handeln immer von zweierlei: von dem Versprechen eines glücklichen, idyllischen und ordentlichen Lebens – die Deutschen ohne die Fremden; die Deutschen ohne die furchtbar elitäre Demokratie; Winnetou, der edle Wilde; das Dorf der unbesiegbaren Gallier – und von der Beschwörung eines gewaltigen Feindes, der diese Idylle bedroht. Seine hauptsächlichen Affekte sind binär: Glück wird erträumt – und um erträumtes Glück zu bewahren, ist es erlaubt, zu hassen.
Der sogenannte Dschihad vermischte sich untrennbar mit der Jagd nach Sklaven.
Thilo Sarrazin

4. Keep it simple

Der größte Trick der Bestsellerautoren ist die Vereinfachung. Die Verwendung des Klischees, doch mit Verzierungen (damit man nun eben den Bestseller nicht mit reinem Schund verwechselt). Eine Prise Innovation (nicht übertreiben!), eine kleine Beimengung von Stil (einen Sarrazin soll man schon an seiner Sprache erkennen, so wie man auch einen Paolo Coelho an seiner Sprache erkennt). Klare Gliederungen, die jede Dialektik, Raffinesse oder Relativierung ausschließen.
Zum suspension of disbelieve gehört auch der sogenannte Lesefluss, der aus einem Buch einen Page-Turner macht, ein Konstrukt, das einen zwingt, immer weiter zu lesen, sei es, weil eine Sensation auf die andere folgt, sei es, weil die Erwartung einer Lösung ins schier Unerträgliche steigt.
Ein wesentlicher Bestandteil des Erfolges ist also neben dem Lesevergnügen (der maskierten Wunscherfüllung) die Lesegeschwindigkeit. Bestseller liest man nicht, man verschlingt sie. Das ist ein so sinnliches wie treffendes Bild. Es handelt sich offensichtlich um die Simulation der Befriedigung eines oralen Affektes.
 Wer den Text des Korans im Sinne von Intoleranz, Gewalttätigkeit, Hass auf die Ungläubigen, Rückständigkeit und Unterdrückung der Frauen interpretiert, kann seine Positionen unmittelbar und reichhaltig aus dem wörtlichen Korantext belegen.
Thilo Sarrazin

Anderen auf die Nerven zu gehen ist Teil des Vergnügens

5. Eine Gemeinschaft begründen

Ein Bestsellersachbuch formuliert keinen Diskurs, es bildet einen Kult. Man muss aus den Leserinnen und Lesern eine Gemeinschaft formen. Das ist bei Harry Potter oder Bibi und Tina nicht anders: Die Leserinnen und Leser werden Teil eines Kults, teilen ein Geheimwissen, die Lektüre verknüpft sie mit den anderen in dieser Gemeinschaft. In einer bestimmten Lebenssituation kann man einfach nicht genug von diesen Büchern kriegen (dass man dabei anderen auf die Nerven geht, ist Teil des Vergnügens).
Aus der Komplizenschaft mit dem Autor wird schließlich das, was man ein guilty pleasure nennt, also ein Vergnügen, das eigentlich mit Schuld beladen ist und für das man sich schämen müsste. Die Leser von James-Bond-Romanen wissen genau, dass ihr Held ein sadistischer, zynischer, sexistischer Armleuchter ist, so wie die Leser von Thilo Sarrazin genau wissen, dass er nicht argumentiert, sondern Affektbilder erzeugt, die, sehr deutsch, in buchhalterische, oberlehrerhafte Sprache gegossen sind. Es kommt nun darauf an, das guilty in den pleasures zumindest zeitweise zu suspendieren, so wie man vorher seine Ungläubigkeit (also seine Kritikfähigkeit, seinen Realitätssinn, seinen Erfahrungsschatz) suspendiert hat.
Man muss verhindern, dass sich das demografische Gewicht der Muslime in Deutschland und Europa weiterhin durch Einwanderung und Geburtenreichtum kontinuierlich verstärkt.
Thilo Sarrazin

6. Sex, Gewalt, Drogen

Es geht nicht um Wahrheiten oder um Argumentationen, es geht ums Gefühl. Was einen rechtspopulistischen Bestseller anbelangt, geht es in ihm (im Gegensatz zum feuchten Traum eines young-adult-reader-Bestsellers) um die Formulierung negativer Affekte: Es muss etwas heraus, was sich in den Enttäuschungen über das eigene Leben angesammelt hat. Die Lektüre erteilt die Erlaubnis für Emotionen. 
Alle Bestseller lassen sich mehr oder weniger auch auf ihre Ventilfunktion zurückführen. Ein Publikum will erreicht werden, das besonders unter einem sozialen, ideologischen oder moralischen Druck leidet. Niemand wird sich sonderlich für Shades of Grey interessieren, der zu Hause einen gemütlichen SM-Keller hat, niemand aber auch, der Fesselung und Unterwerfung als ganz und gar unsexy empfindet. Ein echter Nazi braucht einen Thilo Sarrazin so wenig wie ein humanistischer Kosmopolit. Es geht stattdessen stets um eine Form der "Befreiung" unterdrückter Impulse. Man kann es sehr einfach ausdrücken: Sex, Gewalt, Drogen. Wenn sich Bücher in der Bestsellerliste finden, kann man ziemlich sicher sein, dass es wegen einem dieser drei Aspekte geschieht. Dabei gilt, von den guilty pleasures ausgehend, auch eine Technik der Übertragung als erfolgversprechend, zum Beispiel, indem das Begehrte zugleich das ist, worüber man sich besonders empört.
Erbeutete Frauen gehören zu den Sklavinnen. Der mit ihnen erlaubte Sex macht Kriege und Raubzüge für alle Männer, die keine Frauen haben oder mehr von ihnen haben wollen, besonders attraktiv.
Thilo Sarrazin

7. Die Kampagne

Es kommt darauf an, sich von den "richtigen" Leuten loben zu lassen, sich in publizistische Vernetzung zu begeben, zugleich aber auch die "richtigen" Leute zu empören. Von Matthias Matussek ließ sich Sarrazin schon bescheinigen, er sei "über jeden Zweifel erhaben", er sei ein "Kenner der Materie" usw. So etwas ist nicht nur Lobhudelei unter Gleichgesinnten. Es ist Teil des Entertainments. Man kennt das aus den fiktionalen Segmenten der Bestsellerei, Stephen King lobt einen Autor, Richard Harris lobt einen anderen, und dies stets in Tönen, die ein gewöhnlicher Kritiker selbst im größten Begeisterungsrausch nicht anzuschlagen wagte. Der Lobende erhebt sich dabei so sehr wie der Gelobte. Der Tadel dagegen wird zur Feindesehre.
Der Islamwissenschaftler Mathias Rohe bezeichnet "Thilo Sarrazin, Hamed Abdel-Samad und Necla Kelek" als "prominente Vertreter" einer Desintegrationsindustrie, die "statt faktenorientierter Benennung von konkreten Problemen (...) weitgehend essentialistische Ansichten" verbreiten (...). Mathias Rohe wird es aushalten müssen, dass man Fakten anders bewerten kann, als er es tut.
Thilo Sarrazin

Der Autor ist das Kunstwerk

8. Der Autor ist das Kunstwerk

Alles Schreiben ist autobiographisch, und auch Bestsellerautoren, ob sie nun über Aliens oder den Islam schreiben, schreiben vor allem über sich selbst. Daher wird es dann wohl doch kaum je einen Bestseller von jemandem geben, der nicht so ist, wie er schreibt, und nicht so schreibt, wie er ist. Deshalb wird es den synthetischen Bestseller nicht geben, auch wenn die Rezepte der Autorinnen und Autoren noch so einfach zu durchschauen sind.
Sarrazin ist ein Autor, der immer wieder die Öffentlichkeit sucht und dort eine bestimmte, immer gleiche Performance abliefert. Es ist ein Gesamtkunstwerk aus Autor, Werk und Fankultur. Sarrazin wird zum Heroen gemacht. Seine Geschichte vom Aufstieg und vom Erfolg ist ein Modell. Für seine Leserinnen und Leser ist er aber auf jeden Fall "einer von uns". Sie müssen einen Schutzwall um "ihren" Autor bilden, ihn gegen alle Kritik verteidigen, mehr noch, jede Kritik als Blasphemie behandeln, die in der Negation den Autor bejaht. Wenn einer von den elitären linken Kritikern den neuen Sarrazin "verreißen" zu müssen meint, gilt das nur als Beweis dafür, wie recht Sarrazin hat.
Der Autor ist ein Star, und jeder Star muss es sich gefallen lassen, in seinem Image als Ausdruck seiner Zeit, seiner Kultur und seiner Gesellschaft gedeutet zu werden. Wir wissen, was die Rebellenpose eines James Dean ausdrückte, die Arbeitskluft von Stephen King, das verhuschte Selbstbewusstsein von Joanne K. Rowling. Dürfen wir über Thilo Sarrazins Erscheinung, über ein Menschenbild und eine Sprechweise, die offenbar tief aus dem kollektiven Unterbewusstsein einer Gesellschaft, die unbedingt "Volk" sein will, stammt, in gleicher Weise spekulieren, wie über die tragische Weiblichkeit von Marilyn Monroe oder den heroischen Kampf des Geistes gegen einen versagenden Körper bei Stephen Hawking? Sagen wir es so: Was da als Bild und "Erscheinung" über uns kommt, entspricht exakt dem ihm zugeordneten Text.

9. Wiederholung gewinnt

Ein Bestsellerautor schreibt eigentlich immer wieder dasselbe Buch. Es muss nicht so kunstvoll in seinen veränderten Perspektiven und Plots sein wie bei Stephen King, es genügt das immer Gleiche vom Selben wie bei Dan Brown. Oder, um es wieder mit Matthias Matussek zu sagen: Sarrazin ist ein Autor, der "quer zu allen integrations- und europapolitischen Wunschwelten steht und stur auf die Probleme und deren Ursachen deutet". Die Sturheit wird hier als Qualitätsmerkmal gesehen.
Allerdings gibt es auch eine bestimmte Steigerungslogik: Jedes Buch enthält dasselbe wie das vorige, nur mehr davon. Der Wiedererkennungswert wird natürlich auch durch die Covergestaltung erzeugt: Es ist fast dasselbe, bloß in einer anderen Farbe.

10. Werde zum Kult

Nicht jeder Bestseller wird zum Kultbuch und nicht jedes Kultbuch wird zum Bestseller. Das Kultbuch entwickelt eine gewisse Nachhaltigkeit, es macht einer Gemeinschaft wieder Mut. Tolkiens Der Herr der Ringebeispielsweise wurde im Nachklang der Hippie-Ära zum Kultbuch eines Rückzuges, aus der Politik und aus der Wirklichkeit. Es schafft einen imaginären Zeichen- und Wertvorrat (alle Kultbücher lassen sich als moralische und ästhetische Anleitungen lesen), und führt in eine so oder so ausgerichtete soziale und ästhetische Bewegung. Wenn man es mit der verstehenden Soziologie auf die Spitze treiben will, kann man sich sogar ein Bild davon machen, wie sich Hardcore-Sarrazin-Leserinnen und -leser anziehen, in welcher Art sie sprechen und wie sich ihr Einkaufsverhalten gestaltet. 

11. Nichts ist erfolgreicher als Erfolg

Wenn ein Bestsellerautor einmal einen Beststeller hingelegt hat, bekommt er die mediale Aufmerksamkeit, die verlegerische Unterstützung, das Marketing, die bei den Adressaten erst gar keine Zweifel daran aufkommen lässt, dass man das Buch unbedingt haben muss. Stephen King hat einst selbst davon gesprochen, dass er auch seine Einkaufszettel veröffentlichen könnte und die Verleger würden sich drum reißen.